Bürgergasse 12, Leonsburg

  • Das klingt im wahrsten Sinne des Wortes interessant. :D
    Für uns Sinaiten ist das "Mittelalter" jene Epoche, die im 10. Jahrhundert mit der blutigen Einigung der Gotonen und der Kimmerier unter Herzog Angantyr begann. Sie endet im 15. Jahrhundert mit dem Sieg der sinaitischen Truppen im 2. Schwionisch-Sinaitischer Krieg. Er leitetet zugleich eine jahrhundertelange Zeit des Friedens und der Stabilität ein, die erst 1924 jäh beendet wurde: als nämlich in einer blutigen Revolution Großfürst Ermanarich von kommunistischen Aufständischen gestürzt und gemeinsam mit seiner Familie in Arheim ermordet wurde. Gerade für die gotonische Sprache erwies sich diese Revolution und die daraus entstandene Diktatur als katastrophal.

  • Ja ja, selbstverständlich kann man das. Es gibt viele Bücher über die gotonische Sprache. Was ich meinte, war etwas anderes.
    Sie müssen wissen, wir Sinaiten sind zwar ein stolzes und wehrhaftes Volk, vor allem aber ein kleines. Die ganze Epoche hindurch, die wir das Mittelalter nennen, waren wir dem Einfluss ausländischer Mächte ausgesetzt. Vor allem unser Nachbar Schwion war es, der mehrfach den Krieg in unser Land trug oder von turanischen Kreuzrittern tragen ließ. Schwion brachte aber eben auch den Fortschritt. Unter schwionischem Einfluss entstanden Städte und blühte der Handel. Entsprechend stark war auch der Einfluss der schwionischen Sprache, die ja ihrerseits vom Turanischen beeinflusst wurde. Die Oberschicht Sinais redete bald nur noch Schwionisch und mit ihr die Bürger der Städte. Die gotonischen – und die eng verwandten kimmerischen – Dialekte wurden immer mehr zu einem Idiom der einfachen Menschen auf dem Land.
    Erst im 18. und 19. Jahrhundert besann man sich im Rahmen einer – wenn Sie so wollen – "nationalen Rückbesinnung" wieder auf die eigene Sprache. Das Gotonische wurde wissenschaftlich erforscht und in Akademien gelehrt. Es wurden Bücher über gotonische Grammatik und Rechtschreibung verfasst. Genau das aber wurde der Sprache zum Verhängnis, galt sie doch jetzt ironischerweise wieder als die Sprache der ungeliebten Oberschicht. Die kommunistische Bewegung, die 1924 den Großfürsten stürzte und ermordete, speiste sich vor allem aus der Arbeiterschicht der Städte – und die sprach zumeist sinaitisches Schwionisch. Kaum an der Macht, gingen die Kommunisten teils rigoros gegen die Wiedergeburt des Gotonischen vor. Letztlich schaufelten sie sich damit ihr eigenes Grab: Wer von Haus aus Gotonisch sprach, bekämpfte das Regime, auch wenn er selbst politisch weit links stand. Es waren genau solche Reformsozialisten, die die Diktatur 2003 beendeten.

  • Nun ja, ansatzweise gibt es diesen Bewusstseinswandel bereits. Aber für die meisten Menschen in Sinai ist das Gotonische nach wie vor nur Teil der Folklore, aber eben nicht Teil ihres Lebens in der Gegenwart.

  • "Gibt es Radiosendendungen gotonischer Sprache? Würden sich vielleicht junge Künstler finden, die die gotonische Sprache mit moderner Musik vertonen? Das müsste doch ein Bewusstsein, auch ein Selbstbewusstsein schaffen? Kulturelle Vielfalt steht doch ganz Turanien sicherlich gut zu Gesicht."

  • "Ah! So etwas muss natürlich gefördert werden. Bei uns bauen wir die Radiosender gerade erst aus, aber ich glaube, ich werde mich dafür einsetzen, dass auch lokale Kleinsprachen berücksichtigt werden. So sieht es unsere Verfassung auch ausdrücklich vor. Da ich dafür zuständig bin, werde ich den Statthalter der Provinz Septimanien höflich bitten, Radio Carcasónna in gauthonischer Sprache senden zu lassen.
    Wie schön! Das Zusammentreffen mit Euch bringt mich auf gute Ideen!"


    Der Präfekt lächelt vergnügt.

  • Huldrych sitzt in seinem Arbeitszimmer in Leonsburg und beschließt nach der Trennung von seiner Frau, noch einmal völlig neu durchzustarten: Die grauen Haare werden gefärbt, die in die Jahre gekommenen Pullunder fliegen zugunsten von lockeren Hemden, T-Shirts und modischen Sakkos aus dem Kleiderschrank, die altväterliche Gesichtsbehaarung weicht einem modernen Dreitagebart. Mit 53, ist Huldrych überzeugt, hat er sein Leben noch vor sich.