Das Turanische Kaiserreich

  • Für Reichskonsul Eichstätt war die Karriere nach dem Ende des Ostfeldzugs vorüber. Er trat von allen Ämtern zurück, blieb aber noch knapp drei Jahre in der Hauptstadt. Bereits von einer schweren Krankheit gezeichnet, ging er 1811 auf die Insel Seeland zurück, wo er im Alter von 54 Jahren auf dem Schloss seiner Familie verstarb. Sein 1804 erschienenes Hauptwerk „Vom Kriege“ zählt nach wie vor zu den Standardwerken der Militärliteratur.
    Wie ich bereits sagte, erholte sich das Kaiserreich nie mehr von der Niederlage im Osten. Das Ansehen des Kaisers war endgültig am Boden. Dazu kam die nach wie vor schlechte Versorgungslage in Teilen des Landes. Das Resultat: Proteste der Bevölkerung und zunehmend Reformforderungen, die die Monarchie an sich in Frage stellten. Selbst im Großbürgertum, das bislang treu zum Kaiser stand, mehrten sich Forderungen nach einem grundlegenden politischen Wandel. 1821 entlud sich schließlich die Wut der Menschen.

    Dr. Everhard Gscheidt
    Professor für Turanische Vor- und Frühgeschichte



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  • Sozusagen. Bis 1821 hielten sich die Proteste noch in Grenzen. Vor allem Studenten wagten sich an die Öffentlichkeit. Die Sicherheitskräfte gingen gezielt gegen einzelne Kundgebungen vor und erstickten die Proteste im Keim. Daneben wurde die Pressefreiheit drastisch eingeschränkt, um missliebige Medienberichte zu unterdrücken. Einzig die kleinturanischen Reichslande spielten nicht mit. Hier herrschte der eher liberale Herzog Friedwolf II., der selbst an Reformen interessiert war. Auf seine Einladung hin begann eine Versammlung von Juristen und Beamten die Ausarbeitung der sogenannten "Freyburger Reichsverfassung". Mit ihr sollten einige Forderungen des Volkes zumindest ansatzweise umgesetzt werden. Man darf ja nicht vergessen: Es gab zu diesem Zeitpunkt schlicht und ergreifend überhaupt keine Reichsverfassung, sondern nur eine Reihe von "fundamentalen Reichsgesetzen", die zu wesentlichen Teilen noch aus dem Mittelalter stammten. Von Bürgerbeteiligung war darin natürlich keine Spur. Dennoch ging auch der Freyburger Entwurf den radikalen Demokraten nicht weit genug – und die Kaisertreuen lehnten ihn ebenfalls ab. Als er endlich fertig war, war das sprichwörtliche Kind zudem schon längst in den Brunnen gefallen.
    An der Eskalation der Proteste hat ein Mann wesentlichen Anteil: Ignatius Gotthold von Leberecht, seit 1817 Reichskonsul. Er entstammte einer Familie großturanischer Landadliger und galt als äußerst kaisertreu. Die Gefahren eines unzufriedenen Bürgertums erkannte er nicht. Als es dann ab 1821 zu Barrikadenkämpfen in Turan kam, ließ er das Militär mit brutaler Härte gegen die Demonstranten vorgehen. Einer unbestätigten Aussage zufolge wollte Leberecht damals das "Geschmeiß" der Demokratie ausrotten. Sie können sich vorstellen, dass das harte Vorgehen des Militärs den Widerstand nur noch weiter anheizte. Die Proteste griffen auf das ganze Land über. Ab diesem Zeitpunkt reden wir vom Bürgerkrieg. Etwa zwei Jahre lang wogten die Kämpfe hin und her. In einzelnen Landesteilen jagten Bürgerwehren die Adligen aus ihren Schlössern und richteten erste demokratische Verwaltungsstrukturen ein. Andernorts kann man für diese Zeit faktisch von einer Militärdiktatur reden. Nach und nach zeigte sich aber, dass die Monarchie nicht zu retten war. Überall mussten die Kaisertreuen den Rückzug antreten.
    Als erstes sagte sich bereits 1821 Neuturanien vom Kaiserreich los. 1822 wurde die Herrschaft des Turanischen Ordens in Ostturanien gestürzt. Der Großmeister des Ordens floh aus Hermannstadt nach Aarburg, wo er sich beim Erzbischof einquartierte. Das ist übrigens der Grund, weshalb der Orden bis heute eng mit dem Erzbistum Aarburg verflochten ist. Als es dem Kaiser in Turan zu ungemütlich geworden war – das war ebenfalls 1822 –, zog er sich nach Schloss Nymphenheim zurück und überließ Reichskonsul Leberecht das Kommando. Damit begann der Schlussakt des Bürgerkriegs. Immer rücksichtsloser gingen Leberechts Soldaten gegen die eigene Bevölkerung vor, immer rücksichtsloser zeigten sich aber auch die radikalen Monarchiegegner. Viele Soldaten wechselten die Seiten. Eine politische Lösung war damit endgültig ausgeschlossen. Am 11. Mai 1823 schließlich stürmten die Volksmassen den kaiserlichen Palast und inhaftierten den Reichskonsul. Am folgenden Tag wurde er vor ein Bürgertribunal gestellt und erschossen.
    In einzelnen Landesteilen gingen die Kämpfe noch weiter. In Nordturanien bildete sich in Heimgard eine revolutionäre Volksrepublik, während sich in Aarburg der kaisertreue Reichspräfekt, Großherzog Ludwig, zum "General-Reichs-Kommissar" ernannte. Bis 1827 hielt er sich noch gegen die vordrängenden Bürgerwehren im Amt, dann musste er aufgeben. In Kleinturanien war Herzog Friedwolf II. Anfang 1823 gestorben. Das Ende des Kaiserreichs erlebte er nicht mehr mit. Sein Sohn, Friedwolf III., setzte die liberalen Reformen mit neuem Elan fort. Mit Zustimmung des Parlaments ließ er sich zum "Bürgerkönig" ausrufen. Bis 1872 dauerte diese kleinturanische Monarchie an. Bereits 1824 war das Fürst-Patriarchat von Königsberg von Volkstruppen eingenommen und der Großturanischen Republik angegliedert worden. Der Patriarch wurde seiner politischen Macht beraubt und durfte fortan lediglich das Amt eines Bischofs ausüben. Die Forderungen einiger Radikaler, ihn als "Kollaborateur der alten Ordnung" hinzurichten, wurden von den gemäßigten Kräften zurückgewiesen. Man brauchte die Kirche noch als integrativen Faktor.

    Dr. Everhard Gscheidt
    Professor für Turanische Vor- und Frühgeschichte



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  • Die gab es bestimmt, aber vor allem im Ortsadel, der eh nicht mehr viel zu sagen hatte. Unter den Fürsten war jedenfalls Herzog Friedwolf der einzige Reformer. Der Großmeister des Turanischen Ordens war ein entschiedener Gegner eines liberalen Wandels, ebenso wie erwähnt Großherzog Ludwig von Aarburg. Kaiser Karl VI. wäre vielleicht sogar zu einem Entgegenkommen bereit gewesen. Allerdings verließ er sich zu sehr auf Berater wie Reichskonsul Leberecht. Als er erkannte, in welcher kritischen Situation das Reich war, war es bereits zu spät. So blieb ihm nichts anderes, als die Kaiserkrone niederzulegen. Unerkannt und gedemütigt ging er in Thorshaven an Bord eines Schiffes und verließ Turanien für immer.

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  • Nach Albernia, soweit ich weiß. Dort verbrachte er den Rest seines Lebens auf einem recht passablen Landsitz. Turanischen Boden betrat er nie wieder.

    Dr. Everhard Gscheidt
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  • "Vernetzt" ist gut, Herr Odinsson. Die Führung des Ordens ist seitdem faktisch mit dem Erzbistum Aarburg verbunden. Anfangs war der Erzbischof bloß "Protektor des Turanischen Ordens". Nach dem Tod des damals amtierenden Großmeisters allerdings wählte das Ordenskapitel, also die Führungsebene des Ordens, den Erzbischof aus Dank zum Großmeister. Dabei ist es bis heute geblieben. Deshalb ist der aktuelle Erzbischof von Aarburg, Claudius Theodosius von Saalenburg, auch Ordenschef.
    Nun aber zu Ihrer Frage: In der Bevölkerung gab es keine einheitliche Haltung bezüglich der Kirche. Die Mehrheit der revolutionären Bürger war fest im Christentum verankert. Viele einfache Priester auf dem Land unterstützten den Sturz der Monarchie sogar ausdrücklich. Eine Abkehr vom turanischen Katholizismus kam nur in wenigen Fällen vor. Anders sah es bei der Haltung zur kirchlichen Hierarchie aus. Hier gab es bisweilen – ich deutete das ja an – radikale Stimmen, die eine Zerschlagung der Amtskirche forderten. Sie wollten nicht nur den Staat revolutionär umkrempeln, sondern auch die Kirche. "Volksherrschaft allerorten" forderte beispielsweise der radikaldemokratische Vordenker Friednant Leonhard. Er setzte sich nicht durch, da die Mehrheit der Revolutionäre in der Zusammenarbeit mit einer politisch entmachtete Kirche die bessere Lösung sah. Aus heutiger Sicht war das eine gute Lösung, da man die Kirche so zugleich in die neue Gesellschaft integrieren konnte. Leonhard und die anderen radikalen Demokraten wurden mit ihrer Haltung aber auf lange Sicht hin zu den Vorläufern des christlichen Sozialismus, der wiederum die turanische Arbeiterbewegung mitprägen sollte.

    Dr. Everhard Gscheidt
    Professor für Turanische Vor- und Frühgeschichte



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  • Ansätze gab es immer schon. Die politische Ordnung der Vorzeit ähnelte ja zumindest im weitesten Sinne der Demokratie. Auch im Mittelalter gab es hier und da quasi-demokratische Strukturen. Nehmen Sie Klöster, wo die Mönche ihren Abt frei wählen. Oder nehmen Sie Bauernschaften, die bis weit ins Mittelalter eine demokratische Ordnung hatten. Und selbst in vermeintlich undemokratischen Adelsherrschaften gab es mitunter freie Wahlen, an denen sich zumindest der Adel beteiligen konnte. Auf überregionaler Ebene war dagegen eine Demokratie undenkbar, sieht man einmal von einzelnen Vordenkern schon im späten Mittelalter ab.
    Sozialistisches Gedankengut wiederum kam ebenso frühzeitig auf, vielleicht sogar früher als der Ruf nach Demokratie. Oft waren es gerade einfache Kirchenmänner, Landpfarrer oder Ordensbrüder, die sich für ein quasi-sozialistisches System starkmachten. Sie begründeten dies mit der urchristlichen Botschaft von der Freiheit und Gleichheit aller Menschen. Gehör fanden sie in den seltensten Fällen – und im Zeitalter des Absolutismus wurde es zusehends schwerer, gegen die strenge Hierarchie in Staat und Kirche anzuschreien. Man kam schnell in den Verdacht des Hochverrats. Das konnte tödlich enden.
    Im frühen 19. Jahrhundert griffen radikale Demokraten die Forderung nach einem sozialistischen Gesellschaftssystem auf. Es waren Männer wie Friednant Leonhard, die nach wie vor aus christlichen Beweggründen handelten. Das war noch nicht die klassische Arbeiterbewegung, die wir heutzutage mit dem Sozialismus verbinden. Eine solche nicht-christliche sozialistische Bewegung entstand in Turanien erst im späten 19. Jahrhundert mit dem Erstarken der Industriearbeiter.
    Damit sind wir nun aber endgültig in der Zeit des Turanischen Bundes angelangt. Hierfür bin ich definitiv der falsche Ansprechpartner. Ich habe aber bereits mit einem Experten geredet, der ein Anschlussseminar "Wege zur Einheit" über die turanische Geschichte des 19. und des 20. Jahrhunderts bis zur Gründung der Föderation anbieten würde: Sigurd Thorwald. Sie haben richtig gehört, der Generaladministrator höchstpersönlich hat sich angeboten, den Kurs zu leiten. Gibt es bereits Interessenten an einer Teilnahme?

    Dr. Everhard Gscheidt
    Professor für Turanische Vor- und Frühgeschichte



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  • Aber nicht doch! Herr Thorwald ist studierter Historiker und zudem Experte für die turanische Einigungsbewegung. Bei ihm sind Sie gut aufgehoben, was die Geschichte des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts angeht. Habe ich Ihr Interesse geweckt?

    Dr. Everhard Gscheidt
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  • Gut. Dann hoffe ich, Sie haben viel gelernt. Ich würde mich freuen, wenn wir uns bei meinem Seminar über die turanische Sagenwelt wiedersehen würden. Bis dahin empfehle ich den Kurs des Kollegen Hirschfeld über das Judentum in Geschichte und Gegenwart Turaniens. Auf Wiedersehen!

    Dr. Everhard Gscheidt
    Professor für Turanische Vor- und Frühgeschichte



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