Beiträge von Dr. Everhard Gscheidt

    Insofern hat Ihr Kollege mit seiner Theorie von der "spirituellen Mauer" gar nicht mal so Unrecht. Niemand im Nordreich hätte die Wallhecke angerührt. Er wäre ehrlos und vogelfrei geworden, eine verfluchte Seele, die von jedem hätte getötet werden können. Nicht einmal die christlichen Eroberer aus dem Kaiserreich zerstörten den Widhag. Im Gegenteil: Sie bauten im Zentrum eine Kapelle und machten aus dem Gelände einen katholischen Wallfahrtsort.

    Tatsächlich gibt es mindestens eine Quelle auf dem Gelände. Allerdings diente die kultischen Zwecken und nicht der Versorgung mit Trinkwasser. Bedenken Sie bitte: Der Widhag war eine Art Pilgerort, keine Burg, die sich gegen Belagerungen wehren musste. Bei einer Länge des Walles von fast zehn Kilometern wäre eine Verteidigung praktisch nicht möglich gewesen. Faktisch hätte ein feindliches Heer die Hecke innerhalb eines Tages zerstören können.

    Die Anlage geht rund um den ganzen Widhag, an manchen Stellen auch mehrfach gestaffelt. Unterbrochen wurde sie ursprünglich bloß von einem Tordurchlass. Lediglich weiter im Norden nutzt der Widhag anstelle der Wallhecke die natürlichen Steilabhänge des Geländes als Schutz.

    Ah... jetzt habe ich verstanden...
    Das dürfte damals nicht einmal mit viel Glück möglich gewesen sein. Lassen Sie sich bitte von der Rekonstruktion nicht irreführen! In heidnischer Zeit war die Wallhecke mehrere Meter dick, buchstäblich wie eine Wand und über und über mit dicken Dornen bewachsen. Da kam niemand durch – jedenfalls nicht ohne schweres Gerät.

    Gute Antwort – aber falsch :D
    Tatsächlich war Widhag besser geschützt als man ihm heute ansieht. Die Bodenwelle, die wir hier vor uns haben, war nämlich in heidnischer Zeit mit einer sogenannten Wallhecke bepflanzt. Man schnitt die Bäume und Büsche so zu, dass eine undurchdringliche "Wand" aus Dornen entstand. Dort drüben können Sie eine alte Rekonstruktion sehen, die an das ursprüngliche Aussehen erinnern soll. Sie kennen vielleicht das Märchen von der Königstochter, die in einen 100-jährigen Schlaf versetzt wird und deren Schloss dann von einer Dornenhecke überwuchert wird? Das ist die literarische Verarbeitung dieser uralten Befestigungsart, die im Übrigen gar nicht so selten war.

    Nach einigen Minuten des Fußmarschs am Waldrand entlang kommt die Gruppe an eine Abzweigung. Der Hauptweg knickt nach links ab und verschwindet im Wald. Hier sehen die Teilnehmer zum ersten Mal eine kleine Bodenwelle links und rechts des Wegs. Sie scheint parallel zum Waldrand zu verlaufen.


    Was Sie hier sehen, ist der kümmerliche Rest der einstigen Befestigung, die sich um fast den gesamten Widhag erstreckte, auf mehreren Kilometern Länge. Erhalten blieb nur diese Bodenwelle als Rest des einstigen Walls. Diesen dürfen Sie sich nicht wie andere Wälle der turanischen Vorzeit vorstellen: Er war keineswegs drei, vier oder gar fünf Meter hoch, wie etwa der Ringwall von Drachenfels oder jener von Heimgard. Er war auch nicht mit Steinen oder Holzbalken verblendet. Kurzum: Er war keine Art Stadtmauer.
    Vielmehr war dieser Wall schon in der Vorzeit sehr niedrig, vielleicht nicht einmal ein Meter hoch. In Verbindung mit den kleinen Gräben vor und hinter ihm brauchten ungebetene Gäste nicht viel mehr als anderthalb Meter überwinden. Wie soll das ein Schutz gegen Eindringlinge gewesen sein, werden Sie jetzt fragen. Haben Sie eine Ahnung?


    Prof. Dr. Gscheidt wartet am Waldparkplatz bei Altenhagen nördlich von Heimgard auf die Teilnehmer der VHS-Exkursion zum Widhag. Seine Befürchtung, das Wetter könnte nicht mitspielen, ist unbegründet: Die Sonne scheint, am Himmel sind nur vereinzelt Wolken zu sehen.